Einstein und Bern
In Bern bestritt er seinen Lebensunterhalt vorerst mit dem Erteilen von Privatstunden in Physik und Mathematik für Schüler und Studierende, die er mit einem Inserat im Anzeiger der Stadt Bern ankündigte. Erst im Juni des Jahres wurde Einstein schliesslich am Patentamt als Technischer Experte dritter Klasse auf Probe angestellt. Im September wurde seine erste Arbeit zu den Grundlagen der molekularen (kinetischen) Theorie der Wärme in den Annalen der Physik publiziert.
Am 10. Oktober verstarb Einsteins Vater in Mailand. Kurz vor seinem Tod erteilte er seinem Sohn die Erlaubnis, seine Studienfreundin Mileva Marić zu heiraten.
Die bereits im Januar 1902 geborene, damals uneheliche Tochter Lieserl wurde aber nicht Teil der Familie in Bern; das Schicksal des Mädchens nach 1903 ist nicht bekannt.
Im Frühjahr erschien Einsteins Theorie der Grundlagen der Thermodynamik in den Annalen
Ab Ostern 1903 traf sich Einstein mit seinen Freunden Maurice Solovine und Conrad Habicht im Rahmen der Akademie Olympia zum intellektuellen Austausch über verschiedene wissenschaftlich-philosophische Themen. Diese Diskussionsrunde, die bis 1905 bestand, blieb Einstein bis zum Ende seines Lebens in bester Erinnerung. Am 2. Mai wurde Einstein Mitglied der Naturforschenden Gesellschaft Bern (NGB).
Ende Oktober zogen Mileva und Albert in eine Altstadtwohnung an der Kramgasse 49. Anfangs Dezember hielt Einstein im Rahmen der NGB seinen ersten Vortrag mit dem Titel “Theorie der elektromagnetischen Wellen”.
Im Juni erschien die dritte Arbeit Einsteins zur Theorie der Wärme mit einer Anwendung auf die Strahlung schwarzer Körper, in der das bereits bekannte Wiensche Verschiebungsgesetz bestätigt wurde. Mitte September erhielt Einstein am Patentamt ein unbefristetes Anstellungsverhältnis, was mit einer signifikanten Lohnerhöhung verbunden war.
Abseits der akademischen Umwelt (Universitäten) gelang es ihm, in relativ kurzer Zeit das damalige Grundverständnis der Physik zu erschüttern und neue, weitreichende Perspektiven zu eröffnen. Dies gelang ihm trotz einer Belastung von 48 Dienststunden an 6 Tagen im Amt, eine wahrhaft unglaubliche Leistung. Dabei ist anzufügen, dass Einstein in dieser Zeitspanne mit seiner Familie noch eine Auslandreise nach Zagreb und Novi Sad unternahm um die Familie von Mileva zu besuchen.
In der ersten der Arbeiten, über energetische Eigenschaften des Lichts, wies er überzeugend nach, dass bezüglich der Ausbreitung des Lichts einerseits und dessen Wechselwirkung mit Materie andererseits, grundlegende Unterschiede in deren Beschreibung bestehen müssen. Dabei stiess er auf die prinzipielle Diskrepanz zwischen der Ausbreitung des Lichts als elektromagnetische Welle und die bei der Beschreibung von Emission und Absorption des Lichts sich aufdrängenden gequantelten Energieüberträge zwischen Strahlung und Materie. Er erkannte natürlich das sich dabei ergebende fundamentale Problem das ihn noch während vieler Jahre immer wieder beschäftigte. Aufgrund dieser Arbeit erhielt er, allerdings erst 16 Jahre später, den Nobelpreis für Physik.
In der zweiten Arbeit beschrieb er eine auf der Betrachtung von innerer Reibung und Diffusionsphänomenen in verdünnten Lösungen beruhende Bestimmung der wahren Grösse von Molekülen, respektive Atomen. Diese Abhandlung mit dem direkten Nachweis des molekularen Aufbaus von Stoffen ist gleichzeitig seine Dissertationsschrift, die er seinem Freund und Studienkollegen Marcel Grossmann widmete und an der Universität Zürich einreichte.
Mit der dritten Arbeit gelang Einstein eine Erklärung der seit langem bekannten aber bisher unerklärten Brownschen Bewegung, d.h., der thermisch induzierten Bewegung von suspendierten Teilchen in ruhenden Flüssigkeiten. Aus seinen Ausführungen folgte, dass es prinzipiell gelingt, aufgrund von wärmetheoretischen Zusammenhängen mit einem optischen Mikroskop die Avogadrosche Zahl, d.h., die Anzahl Atome pro Stoffmenge, zu bestimmen. Ein wirklich unerwartetes Ergebnis.
Kurzfristig am meisten Aufsehen erregte die vierte Arbeit zur Elektrodynamik bewegter Körper, die später als Spezielle Relativitätstheorie Furore machte. Die Einsicht, dass der Zustand der absoluten Ruhe experimentell nicht nachgewiesen werden kann erhob Einstein zum sogenannten Relativitätsprinzip und postulierte dieses als allgemein gültig. Mit der zusätzlichen Annahme der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum, d.h., die Lichtgeschwindigkeit ist nicht abhängig von der sich mit konstanter Geschwindigkeit v (inklusive v = 0) bewegenden Lichtquelle, gelang es ihm, mit kinematischen Betrachtungen neue Zusammenhänge zwischen Raum- und Zeitkoordinaten aufzuzeigen, die intuitiv nicht ohne weiteres einzusehen sind.
In der fünften und letzten Arbeit in dieser erwähnt kurzen Zeitspanne beschrieb Einstein eine Folgerung aus seiner Relativitätstheorie und zeigte, dass Energie und Masse gleichwertig sind, was in der allseits bekannten Formel E = mc2 formal zum Ausdruck kommt. Hier ist allerdings zu präzisieren, dass E als “Ruheenergie E0” zu verstehen ist. Insbesondere ist, wie oft angenommen, die Masse nicht abhängig von der Geschwindigkeit.
Kurz vor Ende des Jahres reichte Einstein noch eine Ergänzung zur obenerwähnten dritten Arbeit über die Brownsche Bewegung zur Veröffentlichung bei den Annalen ein. Darin zeigte er, wie die Brownsche Bewegung mit den Grundlagen der molekularen Theorie der Wärme zusammenhängt.
Im März und April des Jahres dozierte H.A. Lorentz, Nobelpreisträger für Physik 1902, im Rahmen von Gastvor- lesungen an der Columbia Universität in New York über den Inhalt und die Folgen von Einsteins Relativitätstheorie aus dem Vorjahr. Das war ein Zeichen dafür, dass Einsteins Arbeit bereits Aufsehen erregt hatte. Weitere schriftliche Reaktionen zu dieser Theorie stammten von Max von Laue, damals Assistent von Max Planck, sowie von Wilhelm Röntgen, 1901 der erste Empfänger des Nobelpreises für Physik. Sowohl von Laue (1914) als auch Planck (1918) erhielten später ebenfalls den Nobelpreis für Physik.
In einer der verschiedenen Folgepublikationen zu den 1905 verfassten Arbeiten zeigte Einstein mit einem alternativen Ansatz erneut, dass die Trägheit eines Körpers von dessen Energieinhalt abhängt. Gegen Ende des Jahres wandte Einstein die im Vorjahr erhaltene Erkenntnis des gequantelten Energieübertrags bei Emission und Absorption von Strahlung (Licht) auf die Beschreibung des Energiehaushalts von fester Materie an und konnte zeigen, dass mit diesem Ansatz die bisher rätselhafte Temperaturabhängigkeit der spezifischen Wärme von festen Körpern bei tiefen Temperaturen erklärt werden kann. Er begründete damit, retrospektiv betrachtet, die moderne Festkörperphysik, ohne Zweifel eine weitere Pionierleistung.
Ein im Juni eingereichtes Gesuch für eine Privatdozentur an der Universität Bern war zunächst erfolglos, da er sich nicht an die bestehenden Regeln der Prozedur halten wollte. Im August verbrachte die Familie Einstein zehn Tage Ferien in Lenk im Berner Oberland.
Auf Veranlassung von Johannes Stark (Nobelpreis für Physik 1919) schrieb Einstein im Herbst eine Uebersichtsarbeit über “Das Relativitätsprinzip und die aus demselben gezogenen Folgerungen”, mit einem Kapitel über “Relativitätsprinzip und Gravitation”. Letzteres stellte einen ersten Schritt hin zur Allgemeinen Relativitätstheorie dar. Eine mathematisch formal richtige Theorie die auch in der Lage war, eine numerische Uebereinstimmung mit experimentell bekannten Ergebnissen herzustellen, konnte Einstein erst acht Jahre später, im November 1915, in Berlin präsentieren.
Im Februar beschrieb Einstein in der Physikalischen Zeitschrift eine von ihm ersonnene Methode, kleine Mengen von elektrischer Ladung zu messen. Allerdings waren sowohl die Methode als auch die praktische Ausführung der Apparatur, von Einstein als “Maschinchen” bezeichnet, nicht wirklich neu. Das Gerät wurde unter seiner Anleitung von den Brüdern Conrad und Paul Habicht entwickelt. Diese beschrieben das Gerät und seine Funktion in einer Arbeit, die 1910 in der Physikalischen Zeitschrift erschien.
Ab April unterrichte er an der Universität Bern im Rahmen einer Vorlesung über “Die molekulare Theorie der Wärme” und nach Ende des Sommersemesters verbrachte er mit der Familie zwei Wochen Ferien in Mürren und Isenfluh im Berner Oberland.
Wissenschaftlich war Einstein sowohl theoretisch, in Zusammenarbeit mit Jakob Laub, der als sein Gast für 3 Wochen in Bern weilte, als auch experimentell, im Labor von Albert Gockel an der Universität Fribourg, tätig. Letztere Aktivität war Versuchen gewidmet, mit denen die Funktion des oben erwähnten Maschinchens optimiert werden sollte.
Seine Vorlesung im folgenden Wintersemester über “Die Theorie der Strahlung” zog, vermutlich wegen seiner fort- geschrittenen Betrachtungsweise des Themas, nur eine sehr begrenzte Anzahl von Hörern an.
Im Mai erhielt Einstein einen Ruf als ausserordentlicher Professor für Theoretische Physik der Universität Zürich. Hauptpromotor war Professor Alfred Kleiner, auf dessen Empfehlung Einstein 1906 der Doktortitel erhalten hatte.
Im Juli verlieh die Universität Genf dem erst Dreissigjährigen die Ehrendoktorwürde für seine Leistungen im Bereich der physikalischen Wissenschaften.
Im September folgte Einstein einer Einladung zur Teilnahme am Treffen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Aerzte in Salzburg, seinem ersten internationalen Auftritt. In seinem Vortrag sprach er über “Die Entwicklung unserer Ansichten zum Wesen und der Konstitution der Strahlung”, stiess aber auf wenig Verständnis oder gar Zustimmung.
Anfangs Oktober wurde Einstein zum ersten Mal für den Nobelpreis vorgeschlagen und Mitte desselben Monats verliess er Bern, um in Zürich die oben erwähnte Professur anzutreten.
Während seiner Zeit in Bern stieg Einstein somit in wenigen Jahren vom wissenschaftlichen Niemand zu einem der damals einflussreichsten Wissenschaftler auf.